Vorteile und Nachteile von Online-Vorstellungsgesprächen 

Die Covid-19-Pandemie hat das berufliche Umfeld nachhaltig verändert, und Video-Calls sind aus dem Rekrutierungsprozess nicht mehr wegzudenken. Doch während die Flexibilität und Zeitersparnis dieser Methode unschlagbare Vorteile bieten, gibt es auch erhebliche Nachteile. Wie wirken sich technische Pannen und der Verlust nonverbaler Kommunikation auf die Entscheidungsfindung aus? Können Video-Interviews das persönliche Gespräch wirklich ersetzen? Entdecken Sie die Vor- und Nachteile von Online-Vorstellungsgesprächen und wie eine geschickte Mischung beider Ansätze den Rekrutierungsprozess optimieren kann. Lesen Sie weiter, um mehr zu erfahren!

Die Ausgangslage 

Die Jahre mit Covid 19 haben tiefgreifende Veränderungen in vielen Bereichen des Lebens hinterlassen. Auch wenn die „Wunden“ langsam heilen (der Mensch verdrängt glücklicherweise unschöne Erfahrungen recht schnell), so sind manche Veränderungen, vor allem im Berufsalltag bis heute geblieben und werden von vielen Menschen geschätzt: Die Unternehmen leben auch aktuell weiterhin eine umfassende Home-Office-Regelung für Mitarbeitende in Bereichen, in denen es möglich ist – noch in 2018 war dieses Szenario unvorstellbar. Diese Home-Office-Regelungen bieten den Unternehmen und den Mitarbeitenden viele Vorteile – ohne jeden Zweifel. Die Herausforderungen einer solchen Regelung finden bis her jedoch nur nach und nach Eingang in die Überlegungen und Beurteilungen. Viele Team-Meetings finden heute per Video-Call statt, teilweise sogar die Mitarbeitergespräche – und genau hier beginnen die Herausforderungen und Probleme: Die Gesprächspartner in einem Video-Call gleichen oftmals Avataren – nonverbale Signale können so gut wie nie wahrgenommen werden und die Unsicherheit, ob in einem Video-Call getroffene Vereinbarungen und Entscheidungen tatsächlich mit einem belastbaren Commitment versehen werden, bleibt hoch und eine belastbare Teambildung kann nicht entstehen.   

Eine weitere, sehr tiefgreifende Veränderung, die durch die Covid 19-Pandemie in den Alltag Einzug gehalten hat und bis heute stark gelebt wird, ist der Einsatz von Video-Calls für die Rekrutierung, die Beurteilung und für die Gewinnung neuer Mitarbeiter. Diese Entwicklung war absolut zielführend in Zeiten der Pandemie – Social Distancing war richtigerweise das Gebot der Stunde – persönliche Kontakte mussten auf ein Minimum beschränkt werden. Und: Es funktionierte. Aber funktioniert das auch gut und auf Dauer als geeignete Lösung, die das Face-to-Face-Interview, also das persönliche Gespräch vor Ort ersetzen kann? 

Das Video-Interview setzt sich im Rekrutierungsprozess dauerhaft und flächendeckend durch 

In der Nach-Covid-Zeit wird auch heute das persönliche Erstgespräch mit Kandidaten in den allermeisten Branchen inzwischen durch Video-Calls abgelöst, bei herausgehobenen Positionen sogar das 2. und auch das 3. Interview zwischen Kandidaten und Vertretern des Unternehmens. Überspitzt: Es gibt Fälle, in denen eine Kandidatin oder ein Kandidat die handelnden Personen des neuen Arbeitgebers zum Start des Arbeitsverhältnisses das erste Mal live kennenlernt. Zugegeben: diese Fälle bilden (noch?) die Ausnahme.  

Die Vorteile von Video-Calls im Bewerbungsprozess 

Der Einsatz von Video-Calls im Rekrutierungsprozess ist auf den 1. Blick sehr smart: zeitsparend, schnell, flexibel. Ganz gleich wo die verschiedenen Stakeholder des Unternehmens, die in den Prozess eingebunden sind, ortsansässig sind – niemand muss reisen, die Kosten sinken, die eingesparte Reisezeit kann anderweitig genutzt werden. Diese Vorteile sind auch für Kandidaten attraktiv.  

Sehr charmant ist es, dass beide Seiten mit relativ wenig Zeitaufwand herausfinden können, ob Kandidat, Unternehmen und Verantwortungsbereich grundsätzlich zueinanderpassen….KÖNNTEN. 45 Minuten, max. 1 Stunde reichen dafür aus. 

In einem 2. Video-Call können zweifelsohne die relevanten Themen zur fachlichen und persönlichen Eignung, zur Passung zwischen Kandidatenpersönlichkeit und Unternehmens- sowie Führungskultur vertieft werden. Weitere 90 Minuten sollten dafür ausreichend sein – in den allermeisten Fällen. 

Aber reicht das, um die Risiken einer Fehlbesetzung aus Unternehmenssicht und einer Fehlentscheidung aus Kandidatensicht zu minimieren bzw. mindestens beherrschbar zu machen?  

Ganz eindeutig: Nein! 

Die Nachteile von Video-Calls im Bewerbungsprozess  

Immer wieder die Technik! Selbst versierte Nutzer der Online-Medien laufen immer wieder in eine technische Falle: Die Kamera funktioniert nicht oder das Mikro oder die Datenleitung ist nicht stabil. Einfach gruselig – vor allem für Kandidaten, wenn die ersten 10 Minuten im Chaos versinken. Auch wenn alle Gesprächspartner aus ihrer gewohnten Atmosphäre heraus das Gespräch führen, was insbesondere für Kandidaten eine gewisse „Sicherheit“ bietet, so bleiben Authentizität und natürliche Interaktion im Video-Call auf der Strecke. Dies gilt vor allem, wenn sich mehr als 2 Teilnehmer im Video-Call befinden.  

Wir haben es alle schon häufig in einem Video-Call mit mehr als 2 Teilnehmern erlebt: Jeweils 2 Personen sprechen miteinander – die anderen stehen am Spielfeldrand (sichtbar in kleinen Kästchen am Rand des Monitors und eingebaut in mehrere „Kacheln“). Es ist schier unmöglich, die Gesichter, geschweige denn die Körpersprache aller Teilnehmer parallel, bzw. zeitnah zu „lesen“, zielführend zu reagieren und die passiven Gesprächspartner in das Gespräch durch Körpersprache und Blickkontakt einzubinden.  Eine echte erste und belastbare „Verbindung“ zwischen den Stakeholdern des Unternehmens und den Kandidaten kann auf diesem Wege kaum entstehen. Dies ist insbesondere für Unternehmen, die sich ohnehin auf einen engen Kandidatenmarkt ausrichten müssen, nicht zu unterschätzen.     

Video-Call versus persönliches Interview im Bewerbungsprozess  

Die Mischung macht´s …. und die richtige Vorbereitung – hier ein Plädoyer! 

Ganz klar, das allererste Kandidatengespräch als Video-Call sollte zum Standard werden. Diese Form spart Zeit, ist effizient und ist zielführend – sofern sich alle Beteiligten an einige Regeln halten.  Vorbereitung ist dabei die halbe Miete. Für Kandidaten gilt dies ebenso wie für die Stakeholder des Unternehmens, die an dem Gespräch teilnehmen.  

Wie bereitet sich ein Kandidat auf das Video-Interview vor? 

Kandidaten sollten im Vorfeld nicht nur die Technik, den Hintergrund und die Beleuchtung testen (die Unternehmensvertreter bitte ebenso), sondern – einfach auch einmal ein Vorstellungsgespräch in einem Video-Call als Rollenspiel mit einem guten Freund / einer guten Freundin oder mit einem Familienmitglied simulieren und den Video-Call aufnehmen. So kann man sehr zeitnah in der Rückschau Verbesserungen erkennen, diese verinnerlichen und für die echten Vorstellungsgespräche per Video-Call umsetzen. Auf diese Weise besteht tatsächlich eine gute Chance, dass das Vorstellungsgespräch nicht in einer allzu künstlichen Atmosphäre stattfindet.  

Vorbereitung der Personaler auf ein Video-Interview  

Für die Vertreter des Unternehmens gilt, dass Sie das Erstgespräch per Video eben gerade nicht nur als die Möglichkeit sehen, schnell und effizient die (vermeintlich) wichtigsten Punkte zu klären, die ein Kandidat oder eine Kandidatin erfüllen müssen.  Das Gespräch muss von Beginn an auf Augenhöhe geführt werden, denn beide Seiten haben ja ein Interesse. Dazu gehören Respekt und Wertschätzung – eine persönliche Vorstellung der Stakeholder des Unternehmens, die an dem Gespräch teilnehmen, ist unerlässlich und auch die Vorstellung des Unternehmens und ebenso die Beschreibung des zu besetzenden Verantwortungsbereichs sollten einen gewissen zeitlichen Raum einnehmen. Vor allem aber liegt es an den Unternehmensvertretern und hier vor allem an Ihrer Art, Fragen zu stellen, ob ein echtes Gespräch zustande kommt. Nur so lassen sich die elementar wichtigen Punkte zur persönlichen Eignung, zum Fit zwischen der Persönlichkeit und der Kultur des Unternehmens zielführend und ausreichend gründlich beantworten. Die Gespräche sollten mit Leidenschaft, gerne ein wenig Emotionalität und einer Portion Humor geführt werden – eben gerade so wie in einem Face-to-Face-Interview. Eine möglichst authentische Interaktion führt zu einer fairen und realistischen Beurteilung der Kandidaten und zu einem realistischen Bild des Kandidaten über das Unternehmen, die Stakeholder und die Herausforderungen der neuen Position. Damit bindet man Kandidaten schon im Vorfeld eines weiteren Gespräches an das Unternehmen. 

Das persönliche Vorstellungsgespräch ist die Grundlage für gute Personal- und Job-Entscheidungen 

Alle weiteren Folgegespräche des Rekrutierungsprozesses sollten dann möglichst „Face-to-Face“ erfolgen! Eine ausreichend gründliche und belastbare Prüfung – vor allem des Personal-Cultural-Fit -wird auch in der Zukunft von professionell geführten persönlichen Gesprächen abhängig sein.  

Hier ist immer zu bedenken, dass die meisten Fehlbesetzungen genau hier entstehen: Die Persönlichkeit eines Kandidaten / einer Kandidatin wird nur rudimentär mit der Unternehmens- und Führungskultur abgeglichen. Dieses Risiko gilt es durch ausreichend Zeit und Gründlichkeit in persönlichen Gesprächen zu vermeiden – sowohl für die Unternehmen, aber natürlich auch für die Kandidaten und Kandidatinnen.    

Von Dietrich Groth

Personalberater für Konsumgüter / FMCG (non food), Handel, Outdoor & Lifestyle, Verpackungsmittel

Dietrich Groth ist Gründungspartner der DELTACON Gruppe und Geschäftsführender Gesellschafter der DELTACON Berlin GmbH, Executive Search & Recruiting und seit 2007 als Personalberater tätig. Davor bekleidete Dietrich Groth verschiedene Top-Managementpositionen in namhaften Unternehmen der Konsumgüterindustrie.